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2016, am Ende seines letzten Netflix-Specials »Make Happy«, erhebt sich der depressive Komiker Bo Burnham vom Hocker seines E-Pianos und durchschreitet die Wohnungstür. Vor ihm liegt eine hell leuchtende Zukunft, Musik ertönt. Es scheint, als habe er endlich einen Weg gefunden, um glücklich zu werden. Man muss nur hinausgehen und das Leben leben. Kann es so einfach sein?
2021 wissen wir: Nein, das kann es nicht. Was in der Show von damals nicht erwähnt wird: Burnham leidet eigenen Angaben zufolge auf der Bühne unter Panikattacken. Nach »Make Happy« hat er seine Stand-up-Karriere deshalb unterbrochen. Fast vier Jahre arbeitete er an sich, führte zwar Regie (»8th Grade«) und stand vor der Kamera, wagte sich aber nicht live auf die Bühne. Kurz bevor er sich nach Jahren der Vorbereitung seiner Angst stellen wollte, traf die Coronapandemie auf die Welt. Herausgehen, auftreten? Pustekuchen.
Dieselbe Wohnungstür wie 2016, verschlossen diesmal, bildet nun die Schutzbarriere zwischen Burnham und seiner pandemiegebeutelten Umwelt. Verängstigt, isoliert und zunehmend dem psychischen Abgrund entgegentrudelnd, nutzt er die Zeit, um das zu tun, was er am besten kann: bissige, schmerzhafte Comedy. Bloß ohne Publikum. Sein neues Special »Inside« ist seit einer Woche auf Netflix verfügbar. Burnham hat es im vergangenen Jahr komplett allein geschrieben, gedreht und performt – in seinem Wohnzimmer. Herausgekommen ist etwas Großartiges. Etwas großartig Trauriges.
»Wie soll man witzig sein, wenn man allein in einem Zimmer sitzt?«
Bo Burnham in »Inside«
Entgegen allen Konventionen
»Inside« sprengt alle Konventionen klassischer Stand-up-Comedy. Normalerweise werden für Comedy-Specials eine oder mehrere Liveshows gefilmt und zusammengeschnitten, manchmal mit ergänzenden Behind-the-scenes-Clips oder einem neuen Intro, immer unterlegt vom Lachen des Publiku*ms.
Bei »Inside« dagegen wechseln sich sozialkritische Songs aus Sicht einer antikapitalistischen Sockenpuppe mit Einstellungen ab, in denen Burnham eingemummelt in seiner Wolldecke auf dem Fußboden liegt und über die Konsequenzen unkontrollierter Social-Media-Nutzung von Kleinkindern nachdenkt. Mal singt er in seiner Unterhose, ein anderes Mal zertrümmert er wütend seine Filmausrüstung. Und manchmal sitzt er einfach still im Raum.
Es ist ein buntes Durcheinander, hier selbstkritisch, da voller Hybris, oft depressiv. So ganz scheint Netflix selbst nicht zu wissen, wie man das vermarkten soll: Für die Werbung auf YouTube entschied sich der Streamingdienst ausgerechnet für den schwächsten Song des Programms – den über das frustrierende, abendliche Corona-Telefonat mit den Eltern. Vielleicht, weil das Lied am ehesten verständlich ist, wenn man den Kontext nicht kennt.
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Das Besondere an »Inside« ist aber, wie ungeschminkt und ungefiltert vieles andere wirkt. Burnham ist allein mit seiner Traurigkeit; es scheint, als habe ihm kein Produzent gesagt, dass manche Idee ungeeignet für ein Comedy-Special sei. Einer der Höhepunkte wird etwa erreicht, als Burnham – der seit Monaten ohne Haarschnitt inzwischen wie der Unabomber bei seiner Festnahme aussieht – den Tageswechsel zu seinem 30. Geburtstag filmt: Ein leises »Yay« ringt sich der Leidende ab, bevor er wieder zurück zur Arbeit geht.
Gute oder schlechte Tränen
Comedy kann helfen, traurige und schmerzhafte Erlebnisse ertragbar zu machen. Terroristen, Nazis, Krebs: Sie alle verlieren etwas von ihrer Furcht einflößenden Aura, wenn man nur über sie lacht. Aber was, wenn selbst der Comedian nicht mehr über sich lachen mag? Wenn der Clown Depressionen hat?
Ob es Burnham tatsächlich so schlecht geht, wie er vor der Kamera zeigt, bleibt unklar. Im echten Leben ist er seit acht Jahren in einer glücklichen Beziehung – seine Partnerin Lorene Scafaria wird im Special jedoch nicht erwähnt. Auch dass der Film »Promising Young Woman«, in dem er mitspielte, 2020 einen Oscar abräumte, bleibt im Sinne der deprimierenden »In meinem Leben passiert nichts«-Erzählung außen vor.
Und trotzdem ist »Inside« ein Kunstwerk. Weil Burnham zeigt, wie es vielen anderen in seiner Generation gerade geht. Studien zeigen: Junge Menschen leiden unter den als Social Distacing bezeichneten Maßnahmen besonders. Jugendliche und junge Erwachsene erkrankten in der Coronapandemie besonders oft an Depressionen und Angststörungen – sie sind bis zu 80 Prozent häufiger betroffen als der Durchschnitt der Bevölkerung.
Befinden Sie sich in einer scheinbar ausweglosen Situation? Hier finden Sie Hilfe.
Burnhams Programm kommt zur richtigen Zeit. Denn während vornehmlich ältere Geimpfte wieder mehr und mehr am öffentlichen Leben teilnehmen können, warten die meisten jungen Menschen noch immer auf Besserung ihrer Umstände. Die Unis sind weiterhin vielerorts geschlossen, Impftermine nicht mal in Aussicht. Burnham macht begreifbar, was das für Konsequenzen haben kann.
Die schonungslose Zurschaustellung seiner psychischen Erosion ist oft nämlich nicht witzig. Statt zu lachen, will man ihn dann in den Arm nehmen und trösten. Ihm sagen, dass alles gut wird. Dass das klaustrophobische Gefühl des Eingesperrtseins irgendwann vorbei sein wird. Bis er den Ohrwurm »Welcome to the Internet« anstimmt und man sich fragt, ob das nicht doch Freudentränen im eigenen Gesicht sein könnten.